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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Remer-Prozeß“ vor 70 Jahren: „Aus heißer Vaterlandsliebe und tiefster Sorge für den Fortbestand ihres Volkes“

„Remer-Prozeß“ vor 70 Jahren: „Aus heißer Vaterlandsliebe und tiefster Sorge für den Fortbestand ihres Volkes“

„Remer-Prozeß“ vor 70 Jahren: „Aus heißer Vaterlandsliebe und tiefster Sorge für den Fortbestand ihres Volkes“

Otto Ernst Remer (l.) muß sich vor Gericht verantworten Foto: picture alliance / dpa | Jochen Blume
Otto Ernst Remer (l.) muß sich vor Gericht verantworten Foto: picture alliance / dpa | Jochen Blume
Otto Ernst Remer (l.) muß sich vor Gericht verantworten Foto: picture alliance / dpa | Jochen Blume
„Remer-Prozeß“ vor 70 Jahren
 

„Aus heißer Vaterlandsliebe und tiefster Sorge für den Fortbestand ihres Volkes“

Heute vor 70 Jahren, am 15. März 1952, verurteilte das Landgericht Braunschweig den rechtsradikalen Politiker Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede. Doch eigentlich ging es in dem Prozeß um etwas anderes: die Legitimität des Widerstands der Männer des 20. Juli 1944.
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Waren die Widerstandskämpfer des 20. Juli Landesverräter? Nein, urteilte das Landgericht Braunschweig in einem aufsehenerregenden Verfahren, das am 15. März 1952, heute vor 70 Jahren, endete und als sogenannter „Remer-Prozeß“ in die (bundes-)deutsche Rechtsgeschichte einging. Nach vier Verhandlungstagen hatte die dritte Strafkammer dort den ehemaligen Generalmajor Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt.

Doch bereits den zeitgenössischen Beobachtern und Zeitungskommentatoren, die in großer Zahl in das Gerichtsgebäude an der Münzstraße gekommen waren, war klar, daß es in diesem Prozeß um mehr ging als um den Angeklagten und sein Vergehen; nämlich um die Frage nach der Legitimität des gescheiterten Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 „und damit über eine zentrale Frage der Vergangenheitsbewältigung und der Identitätssuche des neu gegründeten Staates und Gemeinwesens“, wie es der Rechtshistoriker Boris Burghardt beschrieb.

Wie kam es dazu? Am 3. Mai 1951 hielt die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei anläßlich der drei Tage später stattfindenden niedersächsischen Landtagswahl in Braunschweig eine von etwa tausend Personen besuchte öffentliche Wahlversammlung ab. Als Redner trat unter anderem auch der stellvertretende SRP-Vorsitzende Otto Ernst Remer auf. Er hatte die Partei 1949 mitbegründet und war als begabter Redner ihr eigentliches Zugpferd. Und Remer war prominent.

„Die Schamröte ins Gesicht steigen“

Der 1912 geborene ehemalige Berufsoffizier war im Krieg mehrfach befördert und ausgezeichnet worden. Seit Mai 1944 befehligte er in Berlin das Wachregiment „Großdeutschland“. Der Einheit kam beim Umsturzversuch Stauffenbergs („Operation Walküre“) eine Schlüsselrolle zu. Die Wehrmachtssoldaten sollten führende Vertreter des NS-Regimes sowie der SS verhaften und so den Staatsstreich absichern. Nachdem Remer durch ein Telefongespräch mit Hitler vom gescheiterten Attentat erfahren hatte, beteiligte er sich an der Niederschlagung des Aufstands vom 20. Juli und wurde dafür vom Major zum Oberst befördert. Im Januar 1945 wurde Remer noch Generalmajor, bis 1947 blieb er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und britischer Internierung. Anschließend lebte er in der Nähe von Oldenburg und machte eine Maurerlehre.

Nach Remers Braunschweiger Wahlkampfrede meldete sich ein Zuhörer zu Wort und forderte den Angeklagten auf, zu den Ereignissen vom 20. Juli 1944 Stellung zu nehmen. Der SRP-Politiker, so der Diskussionsteilnehmer namens Egon Schultz, habe sich mitschuldig an dem gemacht habe, was nach diesem Zeitpunkt noch über Deutschland hereingebrochen sei. Im späteren Urteil heißt es: „In diesem Zusammenhang wies Schultz auf die Zerstörung Dresdens und Braunschweigs hin und schloß mit der Äußerung, daß ihm, Remer, doch die Schamröte ins Gesicht steigen müsse, wenn er an den 20. Juli 1944 denke.“

Daraufhin habe es bei den im Saal anwesenden SRP-Anhängern „erhebliche Erregung“ gegeben, „die sich in starker Unruhe und lauten, zum Teil drohenden Zwischenrufen entlud“. Remer habe sich jedoch schützend vor seinen Kritiker gestellt und die aufgebrachten Teilnehmer beschwichtigt.

Laut Prozeßakten sagte der Generalmajor a.D.: „Ich glaube, zum 500. Mal wird dieses Thema wieder aufs Tapet gebracht. Ich würde nicht heute auf der politischen Ebene stehen, wenn ich nicht heute 100 Prozent von der Richtigkeit meiner Handlungsweise am 20. Juli 1944 überzeugt wäre. Ich würde in der gleichen Situation genau noch einmal dasselbe tun.“

„Landesverräter, die vom Auslande bezahlt wurden“

In seinen weiteren Ausführungen sagte Remer dann den Satz, der die Sache juristisch ins Rollen brachte: „Diese Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Auslande bezahlt wurden. Sie können Gift darauf nehmen, diese Landesverräter werden eines Tages vor einem deutschen Gericht sich zu verantworten haben.“

Über die Veranstaltung und diese darin gefallene Aussage wurde in der Presse, unter anderem von der FAZ, bundesweit berichtet. Die SRP bekam bei der anschließenden Wahl in Niedersachsen immerhin 11 Prozent und zog in Fraktionsstärke in den Landtag. Am 20. Juni 1951 stellte Bundesinnenminister Robert Lehr, ein ehemaliges Mitglied des Widerstands, Strafantrag gegen Remer. Der Braunschweiger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer übernahm die Anklage und überredete mehrere Hinterbliebene hingerichteter Widerstandskämpfer – darunter Marion Gräfin Yorck von Wartenburg und Annedore Leber – sich der Klage anzuschließen. Bauer war als Jude und Sozialdemokrat während der NS-Zeit im schwedischen Exil gewesen und 1949 nach Deutschland zurückgekehrt.

Die Anklage gegen Remer lautete auf „üble Nachrede“ (Paragraph 186 Strafgesetzbuch). Ein juristischer Kniff: Denn der Angeklagte mußte hierbei, wollte er einer Verurteilung entgehen, den Beweis erbringen, daß seine Aussage – die Verschwörer seien nicht nur Hoch-, sondern auch „zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Auslande bezahlt wurden“ – den Tatsachen entspricht.

„Kämpfer für ein ‘heiliges Deutschland’“

Die Anklage machte daher ausführlich das Widerstandsrechts zum Thema, ließ sogar Moraltheologen zu Wort kommen (deren Ausführungen zur Frage des Tyrannenmords und Soldateneides dann allerdings für die Urteilsfindung kaum eine Rolle spielten). Entscheidender war, zu belegen daß sich der Widerstand der Männer um Stauffenberg nicht gegen Deutschland gerichtet hatte. Da laut Strafgesetzbuch Verrat begeht, wer mit dem Vorsatz handelt, dem eigenen Land zu schaden.

Entsprechend verliefen die Zeugenaussagen. Etwa die des Rechtsanwalts Fabian von Schlabrendorff, ehemals Ordonnanzoffizier beim Chef des Stabes der 2. Armee. Er war im August 1944 als Angehöriger der Opposition verhaftet worden. Im Braunschweiger Zeugenstand führte von Schlabrendorff aus, daß „keiner der Widerstandskämpfer auch nur im entferntesten daran dachte, eine Handlung zu begehen, die Deutschland hätte schaden können.“ Im Gegenteil habe man in der Überzeugung gehandelt, „daß das Vaterland gerettet werden müßte.“

Im Unterschied dazu hätten die Mitglieder der „Roten Kapelle“ einen, so Schlabrendorff, „verabscheuungswürdigen Landesverrat aus Gewinnsucht“ betrieben. Bauer wies Remer zudem darauf hin darauf hin, daß es in diesem Prozeß um die Männer des 20. Juli gehe: „Die Männer des 20. Juli waren, davon sind wir alle überzeugt, Kämpfer für Freiheit und, wie Stauffenberg sagte, Kämpfer für ein ‘heiliges Deutschland’.“

Außerdem ließ Bauer den Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm ein „Gutachten über die Kriegslage im Sommer 1944“ vorlegen. Schramm hatte von 1943 bis 1945 das Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes geführt und legte dar, daß der Krieg am 20. Juli 1944 bereits verloren gewesen sei, also weder Verrat noch Sabotage die deutsche Niederlage herbeigeführt hätten. Damit galt auch der Verrats-Vorwurf im Sinne einer neuerlichen „Dolchstoßlegende“ als widerlegt.

„Treue setzt Gegenseitigkeit voraus“

Wie sehr die Frage von Widerstandsrecht beziehungsweise Verrat noch virulent war, zeigt folgende Episode des Prozesses: So gab Landgerichtsdirektor Joachim Heppe eine persönliche Erklärung ab, in der er ausführte, er sei 1943 als Soldat in russische Gefangenschaft geraten und habe den Widerstand etwa des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ als Landesverrat entschieden abgelehnt. Daher stellten ihn einige Ausführungen des Generalstaatsanwalts vor „große und innerste Gewissenskonflikte“. Im Gerichtssaal habe daraufhin „atemlose Stille“ geherrscht. Bauer entgegnete, in diesem Prozeß gehe es um die Männer vom 20. Juli „und wir wissen, daß Sie ein warmes Herz für diese Männer haben.“

In seinem Plädoyer brachte Bauer zudem ganz bewußt die nationale Saite zum klingen, sicherlich auch gemünzt auf die nicht geringe Anzahl derer in der deutschen Öffentlichkeit, die Remers Ansichten über die „Verräter“ teilten: „Wenn es um den 20. Juli geht, dann ist es Zeit, sich an das germanische Widerstandsrecht unserer Vorfahren zu erinnern und an die alte deutsche Demokratie.“ Unbedingter Gehorsam sei „den Deutsche ein fremder Begriff“ gewesen. Bauer weiter: „Gehorsam, sagten die Germanen, gilt für Sklaven, der Freie ist nur zur Treue verpflichtet und Treue setzt Gegenseitigkeit voraus.“

Tatsächlich folgte die Strafkammer der Argumentation der Anklage. Das NS-Regime sei ein „Unrechtsstaat“ gewesen. Der gegenüber den Widerstandskämpfern erhobene Vorwurf des Landesverrats wurde zurückgewiesen, indem das Gericht als Motive ihres Handelns die „Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in Deutschland durch Beseitigung des Regimes“ und die „Erhaltung des deutschen Volkes und Staates in Freiheit und Unabhängigkeit“ anerkannte. In ihrem Urteil folgten die Richter den Aussagen der Zeugen der Anklage und stellten fest, daß die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 „durchweg aus heißer Vaterlandsliebe und (…) Verantwortungsbewußtsein gegenüber ihrem Volk die Beseitigung Hitlers und damit des von ihm geführten Regimes erstrebt haben.“

„Meilenstein der Nachkriegsgeschichte“

Auch wenn die Männer, „ zur Vorbereitung des inneren Umsturzes mit dem Ausland Verbindung aufgenommen haben“ hätten sie „die Voraussetzungen der inneren Tatseite“ für den Landesverrat nicht erfüllt, da sie „nicht mit dem Willen handelten, der deutschen Kriegsmacht einen Nachteil zuzufügen“.

Remers Verteidiger legten Revision ein, die der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 11. Dezember 1952 zurück wies. Das Braunschweiger Urteil war damit rechtskräftig. Der Verurteilte entzog sich so der Haftstrafe durch Flucht ins Ausland. Bei seiner Rückkehr 1954 konnte er von einer Amnestie profitieren. Die SRP war im Oktober 1952 – als erste Partei in der Bundesrepublik – vom Bundesverfassungsgericht verboten worden. Mit seinen Thesen zum Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung wurde Remer noch häufiger ein Fall für die Justiz. Zuletzt entzog er sich 1993 durch Flucht nach Spanien einer Haftstrafe. Die dortigen Behörden lehnten seine Auslieferung ab. Er starb 1997 im Alter von 85 Jahren in Marbella.

Fritz Bauers Konzeption, mittels eines Strafprozesses Geschichtspolitik zu betreiben, hat ohne Zweifel auch Schattenseiten. „Erzogen“ hat er die meisten Zeitgenossen damals sicherlich nicht. Das zeigten allein die zahlreichen empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit; der Generalstaatsanwalt und auch der Vorsitzende Richter bekamen wütende Protestbriefe, Beschimpfungen und Bedrohungen. „Die Fleischerhaken wartet auf Sie Schweinehund“, „es wird kommen der Tag, da auch der letzte Landesverräter gehängt sein wird einschließlich seiner Helfer…“

Dennoch gilt der „Remer-Prozeß“ als „Meilenstein der Nachkriegsgeschichte“, da hier erstmals die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 juristisch rehabilitiert wurden, auch wenn die ablehnende Distanz bis hin zur Verunglimpfung in Teilen der Gesellschaft noch lange bleiben sollten. Der spätere Braunschweiger Gerichtspräsident Rudolf Wassermann sprach vom „bedeutendsten Prozeß mit politischem Hintergrund seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und vor dem Frankfurter Auschwitzprozeß“. Für Richtshistoriker Burghardt markiert das heute vor 70 Jahren abgeschlossene Verfahren „einen Wendepunkt in der Erinnerungskultur Nachkriegsdeutschlands“.

Otto Ernst Remer (l.) muß sich vor Gericht verantworten Foto: picture alliance / dpa | Jochen Blume
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